Menschenrechte und Menschenpflichten gehören zusammen

Menschenrechte sind nicht trennbar von Menschenpflichten: Menschenrechte sind garantierte und gesetzlich verankerte Forderungen an den Staat. Die allgemeine Erklärung der Menschenpflichten hingegen definiert Pflichten, die einem jeden Menschen auferlegt sein sollten: zur Achtung seiner Mitmenschen und zum Schutz der Menschenrechte. Diese Werte sind auch in der katholischen Soziallehre zu finden und geben immer wieder Orientierung in der theoretischen und praktischen Lehre und Ausbildung sozialer Tätigkeitsfelder.

In einer Umfrage wurde vor einiger Zeit einmal folgende Frage gestellt: „Zwei Menschen unterhalten sich über das Leben. Der erste sagt: ‚Ich möchte mein Leben genießen und mich nicht mehr abmühen als nötig. Man lebt schließlich nur einmal, und die Hauptsache ist doch, dass man etwas von seinem Leben hat‘. Der Zweite sagt: ‚Ich betrachte mein Leben als eine Aufgabe, für die ich da bin und für die ich alle Kräfte einsetze. Ich möchte in meinem Leben etwas leisten, auch wenn das oft schwer und mühsam ist‘. Was meinen Sie: Welcher von diesen beiden macht es richtig, der erste oder der zweite?“

Von der Selbstdisziplin zur Selbstverwirklichung

Die Antwort auf diese Frage hängt auch von gesellschaftlichen Werten ab. Der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt, wie sich in unserer westlichen Kultur die Antwort auf die Frage „Was ist der Mensch und was ist seine Aufgabe in der Gemeinschaft?“ in den letzten Jahrzehnten paradigmatisch verändert hat. Noch in den 1950er- und 1960er-Jahren seien die soziale Anpassung des Einzelnen an die Gruppe und die Erfüllung gesellschaftlicher Pflichten die zentralen gesellschaftlichen Werte gewesen ebenso wie das Ideal des sachlichen, emotional-kontrollierten Menschen. Seit den 1970ern weiche diese Vorstellung zunehmend dem Modell der individuellen Selbstverwirklichung. Arbeit sei beispielsweise nicht mehr nur „Broterwerb“, sondern idealerweise auch sinnstiftend. Dem Einzelnen gehe es zunehmend um die „Hervorbringung“ positiver und authentischer Emotionen wie Freude, Lust und Begeisterung.

Die „entgleisende Modernisierung“

Dieser dialektischen Analyse der Moderne, in der sich auch eine „Krise der Erziehung“ (Hannah Arendt) zeigt, schließt sich der Philosoph Jürgen Habermas in seinem Alterswerk an. So warnt er vor einer „entgleisenden Modernisierung“, in der sich die Bürger so sehr vereinzelten und in ihren Selbstinteressen gefangen seien, dass sie „ihre subjektiven Rechte wie Waffen gegeneinander richten“.

Maß und Mitte

Es ist Aufgabe gerade auch kirchlicher Einrichtungen, immer wieder Halt und Orientierung zu geben. Hier kann uns etwa die über Jahrhunderte entwickelte katholische Soziallehre an zweierlei erinnern:

1. Beachte den Einzelnen: Die Quelle der Menschenrechte begründet sich nicht allein im Willen oder in der Anerkennung der Menschen oder in Mehrheitsbeschlüssen, sondern in der Würde und im Geheimnis des einzelnen Menschen selbst.

2. Beachte das Ganze: Der Mensch ist kein autonomes Individuum. Er ist ein soziales Wesen (auch im Lernen). Er ist Bestandteil eines anderen Großen und Ganzen, eines gemeinsamen Hauses (altgriechisch = oikos), einer Ökologie. Und dieses Große und Ganze wiederum bleibt für uns und unseren Zugriff im Letzten „unverfügbar“ (Hartmut Rosa) und ist nicht unendlich manipulierbar. Menschenrechte und Menschenpflichten gehören untrennbar zusammen: „Diejenigen also, die zwar ihre Rechte in Anspruch nehmen, aber ihre Pflichten ganz vergessen oder nicht entsprechend erfüllen, sind mit denen zu vergleichen, die ein Gebäude mit einer Hand aufbauen und es mit der anderen wieder zerstören.“ (Johannes XXIII.)

Balance zwischen Rechten und Pflichten

Es ist unsere tägliche Aufgabe, auch in Ausbildung und Praxis der sozialen Tätigkeitsfelder, hier Maß und Mitte zu halten zwischen „Selbstbestimmungsrechten“ und „gesellschaftlichen Pflichten“, zwischen Partizipations- und Bildungsidealen und Fachkräftemangel, Viertagewoche und Work-Life-Balance. Und in dieser Mitte kann vielleicht ein Raum entstehen für die Erkenntnis Martin Bubers: „Der Mensch wird erst am Du zum Ich.“

Tobias Thanner, Stabstelle Schulpastoral, IfSB

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